An dieser Stelle kommen wir jetzt zu einem chinesischen Konzept, bzw. Begriff, der all die bisher auf dieser Homepage geschriebenen Dinge sehr gut zusammenfasst:

Yi.

„Yi“ heißt, übersetzt ins Englische, so viel wie „mind“. Übersetzt ins Deutsche so viel wie „Verstand“.

Wenn man sich jedoch das chinesische Schriftzeichen für „Yi“ 意 anschaut, erkennt man, dass es aus dem Zeichen für „Stimme“, bzw. „Ton“, und dem Zeichen für „Herz“ zusammengesetzt ist.

„Yi“ bedeutet also „Die Stimme, die aus dem Herzen kommt“.

Um zu verstehen warum eine „Stimme aus dem Herzen“ etwas mit unserem Verstand zu tun hat, muss man sich jetzt noch einmal den Artikel „Was ist Realität“ vor Augen führen. In Ihm haben wir gelernt, dass unser Verstand immer mit unterschiedlichen Informationen gefüttert wird: Dem, was unsere Sinne an die Großhirnrinde direkt übermitteln und dem, was unsere Emotionen ihm mitteilen.

Schauen wir uns jetzt noch einmal das Schaubild aus dem Artikel über „Qi“ an:

Hier sehen wir das unser „Geist“, unsere Emotionen, im Chinesischen mit „Shen“ übersetzt wird. „Shen“ hat, in der chinesischen Sicht der Dinge, seinen Sitz im Herzen.

Das Schriftzeichen für Yi bedeutet also, dass unser Verstand auf unsere Gefühle „hört“ (bzw. hören sollte), was ja auch mit dem westlichen Bild des Verstandes übereinstimmt (siehe „Was ist Realität“). Er ist die übergeordnete Instanz, die die Emotionen kontrolliert, bewertet und versucht sie mit dem Handeln des Menschen in Einklang zu bringen.

In dem Artikel über „Straßen, Netze und Bewegung“ haben wir gelernt, wie Bewegung über das Nutzen einer Idee entstehen kann: Mein Verstand wählt eine Idee, z.B. „Der Auftrieb des Wassers bewegt meine Armee nach oben, während ich auf dem Boden des Meeres stehe“.

Damit verbunden ist ein emotionales Erleben, da ich meine Erinnerungen an das Gefühl „sich unter Wasser befinden“ aktiviere und mir so das Gefühl wieder vor Augen führe.

Aus diesem Gefühl heraus steure ich meine Muskulatur an und meine Arme bewegen sich „indirekt angesteuert“ nach oben.

„Moment mal!“ werden jetzt nicht ohne Grund sehr viele Leute sagen. Nur weil ich mir vorstelle mich auf dem Meeresgrund zu befinden werden sich meine Arme doch nicht nach oben bewegen. Das ist absolut korrekt. Das Bild alleine bewegt noch gar nichts im Körper.

An dieser Stelle möchte ich wieder auf das Schaubild weiter oben verweisen. Wir sehen, wie „Yi“ ein Bild nutzt, um mit Shen zu „kommunizieren“. Der gelbe Pfeil. Dadurch wird die extrapyramidale Motorik angesteuert, was zu einer Aktivierung der Muskelketten führt und die Interaktion zwischen Anspannung und Entspannung nehmen wir als „Kraft“ war. Diese wahrgenommene Kraft wird im Chinesischen mit „Li“ übersetzt. Li ist also das „Äußere“, „Offensichtliche“, während „Qi“ das „Verborgene“, „Versteckte“ beschreibt. Die Energie, die die Bewegung „antreibt“.

Stoffwechselvorgänge, neuronale Netze etc. waren den Leuten damals natürlich unbekannt, sie beschrieben diese Dinge mit dem Konzept des „Qi“, denn irgendeine Form von Energie musste ja existieren damit sich Muskeln bewegen, Atmung entsteht, das Herz schlägt etc.

Das bringt uns jetzt zu dem chinesischen Spruch „Yi kommandiert Qi“.

Wie in einer Armee bedarf es klarer Anweisungen für die Soldaten, damit sich die Formation in die richtige Richtung bewegt und die Manöver so ausgeführt werden, wie es der General wünscht.

So etwas geht natürlich nicht ohne Übung und Drill. Die Kommandos müssen kurz, klar und einfach umzusetzen sein. Dann müssen sie immer wieder eingeübt werden und die einzelnen Teile der Armee müssen lernen sich zu koordinieren.

Kommen wir zurück zu dem Bild „Der Auftrieb des Wassers bewegt meine Armee nach oben“. Dies ist die gewünschte Bewegung der Armee. Ich muss das Bild jedoch mit einer Idee erweitern, damit auch wirklich eine Bewegung entsteht. Das bringt uns zurück zu dem Artikel über die „Didaktik der CMA“:

In dem Artikel haben wir über das „Stehen“ geschrieben (chin. „Zhan Zhuang“, Stehen wie eine Säule)

und wie man dadurch die Kräfte im eigenen Körper lernt wahrzunehmen und zu kontrollieren.

Diese „Kräfte“ sind jedoch nichts Mystisches, sondern lediglich Vektoren aus denen Bewegung entsteht.

Man benötigt also eine Idee, um das GEFÜHL für diese Kräfte zu entwickeln.

In unserem konkreten Beispiel mit den Armen unter Wasser stellt man sich dazu einen mit Luft gefüllten Ball vor, den man mit den Armen unter das Wasser drückt. Der Auftrieb des Balles wird die Arme passiv nach oben bewegen.

Die Energie (physikalisch korrekter „Kraft“) des Auftriebs könnte man mit „Qi“ beschreiben, im Westen würden wir dazu „Archimedisches Prinzip“ sagen (F=p*V*g), wobei uns die Formel natürlich kein Gefühl vermitteln würde, ein Ball, den wir unter Wasser drücken natürlich schon. Hierbei können wir die „Energie/Kraft“ des Auftriebs als vertikalen Kraftvektor wahrnehmen.

Über die Idee des Balls, den wir unter Wasser drücken, können wir also den vertikalen Kraftvektor wahrnehmen und unsere Arme „schwimmen“ auf dem Ball auf. Wir lassen sie, getragen von dem Auftrieb, aufsteigen.

Das Bild unter Wasser, auf dem Meeresboden, zu stehen, mit der Idee den Ball unter Wasser zu drücken, müssen wir jetzt immer wieder wiederholen, um damit ein stabiles neuronales Netz auszubilden.

Dabei wird die Bewegung jedoch nicht groß ausgeführt, sondern nur so weit „angedacht“, dass die Muskelketten gerade angesprochen werden und man die Anspannung fühlt. Im Äußeren bleibt man unbewegt, während die Muskeln sich, entsprechend der Idee des Kraftvektors, anspannen. Ähnlich der Bewegung in folgenden GIF:

Um jedoch auf eine wirklich hohe Anzahl an Wiederholungen zu kommen, muss man diese Art der Übung in den Alltag integrieren.

Dazu gibt es in den chinesischen Kampfkünsten ein sehr ausgeklügeltes System, welches genau darauf ausgelegt ist „Yi“ zu trainieren. Es geht darum die Essenz hinter z.B. der Bewegung (die Kräfte, Vektoren, Ebenen) zu verstehen und sie über Bilder so zu trainieren, dass man sich möglichst harmonisch und effektiv bewegt. Dazu verfeinert man die Körperwahrnehmung (über Bilder und Ideen) immer mehr (man „erschafft sich möglichst viele Soldaten“) und lernt sie effektiv einzusetzen. Die Bilder und Ideen dazu sind Teil des Trainings und variieren je nach Stil und Lehrer.

Um bei dem Beispiel mit dem Ball und dem Wasser zu bleiben, würde man sich jetzt, für das Training im Alltag, unter jeder Hand einen Ball vorstellen. Die eine Seite würde den Ball nach unten drücken, während die andere Seite den Ball nach oben steigen lassen würde, was man bei jedem Spaziergang (oder bei jeder Art von Gehen) üben kann. Dies würde zu einer „tapsigen“ Bewegung führen, die ein wenig an einen Bären erinnert.

Yi, der Verstand, nutzt also Bilder und Ideen, um dadurch Gefühle/Emotionen, zu erschaffen, mit deren Hilfe Bewegung entstehen kann. Andere Bilder und Ideen dienen z.B. dazu die Körperwahrnehmung und Ansteuerung zu verbessern.

In den Kampfkünsten gibt es dazu Verschiedene äußere Formen, die bestimmte Ideen unterstützen. Manche dieser Formen sind Bewegungen, manche Handhaltungen, manche statische Haltungen.

Wenn man gelernt hat diese „Kräfte“ in sich zu spüren und zu erzeugen, dann überträgt man dies auf die Anwendung am Partner. Auch dazu gibt es verschiedene Ideen (Ebenen im Raum, Kreise, Linien etc.) und Übungen.

Festgelegt kann man diese Ideen in den Basisanwendungen des Ringens, Schwert- oder Speerkampfes finden, freier in den „schiebenden Händen“ (Push Hands) wo z.B. die Vektoren und Ebenen (und ihre Anwendungen) erforscht werden können.

´Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Yi (unser Verstand) unendlich trainiert werden kann. Man versucht die Essenz der Dinge im Alltag zu erkennen (Vektoren, Ebenen, Prinzipien wie Wechsel, 5-Elemente etc.), in sich wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen. Dadurch wird das Erlernen von Kampf zur „Kunst“, was sich auf alle Bereiche des Lebens auswirkt.

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