Martial-Arts-Netzwerke in Nordchina – Eine Reise in die Schattenwelt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Zwischen Amtsstuben und Hinterhöfen, zwischen kaiserlichem Auftrag und Glücksspielhölle: Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert durchzog Nordchina ein unsichtbares Geflecht aus Kampfkünstlern, Beamten, Geheimbünden und Unterweltfiguren. Sie waren Eskortenführer, Yamen Runner, Tempelwächter – und manchmal alles zugleich. Dieser Artikel zeichnet das Porträt einer Parallelwelt, in der Fausttechniken genauso viel wert waren wie ein offizielles Siegel.

Einleitung – Als Kampfkunst mehr war als Sport
Nordchina in den letzten Jahrzehnten der Qing-Dynastie war ein Land im Umbruch. Es war eine Zeit, in der die kaiserliche Autorität schwankte, Hungersnöte und Aufstände das Land erschütterten und ausländische Mächte ihre Einflusszonen in den Hafenstädten ausbauten. In diesem Umfeld war Kampfkunst kein eleganter Zeitvertreib für wohlhabende Städter, sondern ein Werkzeug des Überlebens – und für viele zugleich eine Eintrittskarte in ein gefährliches, aber lukratives Netz aus Macht, Geld und Einfluss.
Damals waren es keine Fitnessstudios oder Vereine, in denen man trainierte. Kampfkunst spielte sich in Hinterhöfen, Tempelanlagen, staubigen Marktplätzen und improvisierten Trainingsplätzen am Stadtrand ab. Wer eine anerkannte Technik beherrschte, konnte sich als Eskortwächter verdingen, in den Dienst der Lokalverwaltung treten oder in den Hafenvierteln als Vollstrecker arbeiten. Die Grenzen zwischen legaler Autorität und Unterwelt waren dabei so fließend wie der Gelbe Fluss in der Regenzeit.
Es gab Menschen, die morgens im Auftrag des Magistrats eine Festnahme durchführten und abends die selben Fäuste für einen Schmuggler oder Glücksspielboss einsetzten. Diese Doppelrollen waren nicht die Ausnahme, sondern der Normalfall. In einer Region, in der der Staat schwach und die Wege lang waren, füllten Kampfkunst-Netzwerke die Lücken im Sicherheits- und Verwaltungssystem – oft auf ihre ganz eigene Weise.
Nordchina als Drehkreuz der Gewalt
Die nördlichen Provinzen wie Zhili (das heutige Hebei mit Peking und Tianjin) und Shandong waren besonders prädestiniert für solche Strukturen. Hier kreuzten sich große Handels- und Transportwege: der Große Kanal, die Küstenrouten und die Straßen, die die Hauptstadt mit den Häfen verbanden. An diesen Knotenpunkten entstanden Märkte, Karawanenstationen, Lagerhäuser – und immer auch Treffpunkte für bewaffnete Männer.
Tempelhöfe wurden zu Orten, an denen nicht nur gebetet, sondern auch trainiert wurde. Gasthäuser am Straßenrand boten nicht nur Suppe und ein Bett, sondern auch diskrete Hinterzimmer, in denen Aufträge vergeben wurden. Große Feste boten Tarnung für geheime Absprachen, und die Meister-Schüler-Beziehungen spannten unsichtbare Fäden zwischen Dörfern, Städten und ganzen Provinzen.
Mehr als nur Kampfkünstler
Die Martial-Arts-Netzwerke jener Zeit waren vielschichtige Gebilde. Sie verbanden Händlergilden, religiöse Bruderschaften, lokale Milizen und Verwaltungsbeamte. Ein Meister konnte gleichzeitig Dorfältester, Yamen-Mitarbeiter (Amtsdiener) und Mitglied eines Geheimbunds sein. Seine Schüler wiederum brachten Kontakte aus verschiedenen Schichten mit: Bauern, Soldaten, Schmuggler, Beamte – alle fanden ihren Platz in diesem Geflecht.
Diese Netzwerke waren nicht nur soziale Gemeinschaften, sondern auch wirtschaftliche Maschinen. Sie lebten von Eskortdiensten, Marktschutz, Schuldeneintreibung und gelegentlich auch vom Schmuggel. Für viele war die Kampfkunst nicht nur eine Tradition, sondern ein Geschäftsmodell – ein Werkzeug, um in einer unsicheren Zeit Sicherheit und Einkommen zu garantieren.
Warum dieser Blick in die Vergangenheit wichtig ist
Die Geschichte dieser Netzwerke ist weit mehr als nur eine Fußnote der chinesischen Kampfkunst. Sie erklärt, warum bestimmte Stile in Nordchina entstanden, wie sie sich verbreiteten und weshalb manche Meister zu Legenden wurden, während andere im Schatten blieben. Sie zeigt auch, wie eng Gewalt, Verwaltung und Unterwelt miteinander verflochten waren – und wie sehr Kampfkunst damals ein Teil des sozialen und politischen Machtspiels war.
In den folgenden Kapiteln werfen wir einen Blick hinter die Kulissen dieser Welt: auf die politischen Rahmenbedingungen, die Zusammensetzung der Netzwerke, ihre Funktionsweise, ihre Verbindungen zu Geheimgesellschaften und auf einige der bekanntesten Protagonisten wie Dong Haichuan, Zhang Zhaodong und Wang Xiangzhai.
Teil 2 – Politisch-sozialer Hintergrund: Nordchina im Schatten des Umbruchs
Um die Martial-Arts-Netzwerke des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu verstehen, muss man sich die Welt vorstellen, in der sie entstanden: ein Reich im Spätstadium, eine Gesellschaft im Wandel und eine Verwaltung, die in vielen Regionen kaum mehr als ein dünner Firnis über lokaler Eigenmacht war.
Ein Kaiserreich unter Druck

Ende des 19. Jahrhunderts war die Qing-Dynastie nicht mehr die unangefochtene Macht, die sie einmal gewesen war. Jahrzehnte innerer Aufstände – vom Taiping- bis zum Nian-Aufstand – hatten das Reich ausgeblutet. Niederlagen in den Opiumkriegen und im Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg (1894–1895) hatten die militärische Schwäche offengelegt und das Land unter den Druck ungleicher Verträge gezwungen.
In vielen Provinzen galt die kaiserliche Autorität nur noch auf dem Papier. Die Beamten vor Ort mussten mit begrenzten Mitteln Ordnung halten, Steuern eintreiben und Handelswege sichern. Das gelang oft nur mit Hilfe lokaler Kräfte, die bereit waren, Gewalt einzusetzen – und genau hier kamen die Kampfkunst-Netzwerke ins Spiel.
Das Yamen-System: Verwaltung im Nahbereich
Das Herz der lokalen Verwaltung schlug im Yamen, dem Amtssitz des Bezirksmagistrats. Hier liefen Steuern, Rechtsprechung und Polizeiaufgaben zusammen. Doch das Yamen hatte selten genug ausgebildetes Personal, um die Gesetze konsequent durchzusetzen.
Deshalb setzte man auf Yamen Runner – Amtsdiener, die Festnahmen durchführten, Steuern eintreiben konnten und bei Bedarf auch Schulden im Namen des Magistrats einforderten. Diese Männer waren nicht immer Beamte im heutigen Sinn, sondern häufig angeworbene Kämpfer mit guter lokaler Vernetzung. In der Praxis bedeutete das, dass sie gleichzeitig im staatlichen Auftrag und in eigenen Geschäften unterwegs waren.
Provinzen im Spannungsfeld
Zhili (heute Hebei) und Shandong waren besonders sensibel:
- Zhili beherbergte Peking, die Hauptstadt, und war politisches Herzstück des Reiches. Gleichzeitig lag es an wichtigen Handels- und Militärwegen.
- Shandong war landwirtschaftlich reich, aber auch von Küstenhandel und ausländischen Konzessionen geprägt – ein Einfallstor für westliche Händler, Missionare und Militär.
In beiden Provinzen führte die Mischung aus strategischer Bedeutung, hoher wirtschaftlicher Aktivität und politischer Instabilität dazu, dass lokale Machtnetze – darunter auch Martial-Arts-Gruppen – enormen Einfluss ausüben konnten.
Gewalt als alltägliches Werkzeug
Für Händler, Bauern oder Handwerker war bewaffneter Schutz keine Option, sondern Notwendigkeit. Raubüberfälle auf Landstraßen, Übergriffe konkurrierender Dorfgemeinschaften und Erpressung durch Banden gehörten zum Alltag. Wer es sich leisten konnte, heuerte Wächter an – oft aus denselben Netzwerken, die auch in den Diensten des Yamen standen.
Diese Vermischung von öffentlicher Ordnung und privatem Gewaltgebrauch war kein Missstand im modernen Sinne, sondern ein fester Bestandteil des Systems. Ohne diese „Sicherheitsunternehmer“ hätten viele Märkte nicht funktionieren, viele Karawanen nicht ihre Ziele erreicht.
Der Nährboden für Netzwerke
All diese Faktoren – schwache Zentralmacht, flexible lokale Verwaltung, hoher Bedarf an Schutz und die strategische Lage Nordchinas – schufen den idealen Nährboden für komplexe, vielschichtige Martial-Arts-Netzwerke. Sie füllten die Lücken, die der Staat nicht schließen konnte oder wollte, und wurden zu einer festen Größe im sozialen Gefüge.
Teil 3 – Zusammensetzung der Netzwerke: Wer gehörte dazu?
Die Martial-Arts-Netzwerke Nordchinas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren kein homogener Block. Sie bestanden aus Menschen, die sehr unterschiedliche Berufe, soziale Positionen und Lebensgeschichten hatten – verbunden durch ein gemeinsames Kapital: die Fähigkeit, Gewalt einzusetzen und sich in einem Milieu zu bewegen, in dem Loyalität, Ruf und Netzwerke wichtiger waren als offizielle Titel.
Die Yamen Runner – Amtsdiener mit Doppelleben
An der Schnittstelle zwischen Verwaltung und Straße standen die Yamen Runner. Offiziell waren sie Gehilfen des Magistrats, zuständig für Festnahmen, Steuer- und Schuldeneintreibung oder die Zustellung amtlicher Anweisungen. Inoffiziell nutzten viele ihre Position, um Nebengeschäfte zu betreiben: Schutzgelder eintreiben, als private Leibwächter arbeiten oder Aufträge aus der Unterwelt übernehmen.
Manche dieser Runner waren ausgebildete Kämpfer, andere hatten ihre Fähigkeiten auf der Straße gelernt. Der Zugang zu Informationen – wer wem Geld schuldete, wo sich gesuchte Personen aufhielten – machte sie zu begehrten Partnern sowohl für Händler als auch für Geheimgesellschaften.

Die Biaojus – Karawanen- und Eskorteure
Eine weitere wichtige Gruppe waren die Männer der Biaojus, der Eskortenagenturen. Sie begleiteten Händlerkarawanen, transportierten wertvolle Waren und garantierten Sicherheit auf oft unsicheren Routen. Ihre Arbeit brachte sie mit allen Arten von bewaffneten Gruppen in Kontakt: Banditen, Milizen, konkurrierende Eskortenfirmen – und auch mit korrupten Beamten.
Biaojus waren oft eng mit Kampfkunstschulen verbunden, weil sie ihre Männer im Nahkampf, im Waffengebrauch und in Taktiken gegen Überfälle ausbildeten. Einige berühmte Meister, wie später auch Dong Haichuan, nutzten solche Kontakte, um ihre Netzwerke zu erweitern.
Die Hafenarbeiter und Zunftwächter
In Hafenstädten wie Tianjin spielte eine andere Gruppe eine große Rolle: Hafenarbeiter, Lastenträger und Zunftwächter. Diese Männer kontrollierten nicht nur den Warenfluss, sondern auch den Zugang zu bestimmten Arbeitsplätzen. Wer hier Einfluss hatte, konnte ganze Lieferketten lahmlegen – oder gegen Bezahlung absichern.
Viele Hafenwächter gehörten informellen Kampfkunstgruppen an, die ihre Viertel verteidigten oder ihre Zunft gegen Konkurrenz abschirmten. In einem Hafenviertel konnte man leicht erleben, wie ein ehemaliger Soldat, ein Fischer und ein Karawanenwächter gemeinsam in derselben Trainingshalle übten.
Kampfkunstmeister und ihre Schüler
Das Rückgrat der Netzwerke bildeten die Meister-Schüler-Verbindungen. Ein Meister war nicht nur Ausbilder, sondern oft auch Vermittler von Arbeit, Garant für Schutz und Türöffner zu Kontakten in anderen Städten. Schüler schuldeten ihm nicht nur Respekt, sondern oft auch Gefolgschaft in praktischen Dingen – von Eskortaufträgen bis zu politischen Gefälligkeiten.
Diese Beziehungen waren oft generationsübergreifend. Ein Schüler konnte Jahre später selbst Meister werden und dem ursprünglichen Lehrer oder dessen Familie noch immer Loyalität zeigen. So entstanden Netzwerke, die Dörfer, Städte und Provinzen verbanden.
Frauen im Netzwerk – eine unterschätzte Rolle
Obwohl Kampfkunst in jener Zeit stark männlich geprägt war, spielten Frauen in den Netzwerken eine wichtige, wenn auch oft unsichtbare Rolle. Sie führten Gasthäuser, in denen sich Kämpfer trafen, leiteten Teehäuser oder waren selbst Mitglieder von Familien, die Kampfkunst weitergaben. Manche arbeiteten als Boten oder Informationsbeschafferinnen – eine Tätigkeit, bei der sie seltener Verdacht erregten als Männer.
Ein Geflecht, kein Verein
Diese Netzwerke hatten keine Vereinsstruktur, keine Mitgliedsausweise und keine zentralen Statuten. Sie waren lose, aber robuste Geflechte, die auf Vertrauen, gemeinsamen Interessen und einer klaren Rangordnung beruhten. Wer dazugehören wollte, musste sich beweisen – auf der Matte, auf der Straße und im Umgang mit den richtigen Leuten.
Teil 4 – Funktionsweise und Ökonomie: Wie die Netzwerke arbeiteten
Die Martial-Arts-Netzwerke Nordchinas funktionierten wie vielschichtige Dienstleistungsfirmen – nur ohne klare Grenze zwischen legal und illegal. Sie boten Schutz, organisierten Transporte, sammelten Informationen und konnten, wenn nötig, auch Gewalt einsetzen. Ihre Stärke lag nicht nur in den Fäusten der Mitglieder, sondern in ihrer Struktur: mobil, anpassungsfähig und über viele Orte vernetzt.
Kommunikation: Die unsichtbaren Leitungen
Nachrichten reisten schnell – nicht über Telegraphen oder Zeitungen, sondern über Menschen. Schüler überbrachten Botschaften zwischen Lehrern, Boten ritten von Markt zu Markt, und in Teehäusern wurden Neuigkeiten gezielt gestreut. Manchmal waren es nur wenige Sätze, die zwischen dem Norden und dem Süden einer Provinz weitergegeben wurden, aber sie entschieden darüber, ob ein Auftrag angenommen oder eine Gefahr umgangen wurde.
Geheime Erkennungszeichen, bestimmte Grußformen oder Redewendungen halfen, sich gegenseitig zu identifizieren. So konnte ein Eskortenführer in Shandong einen Hafenarbeiter in Tianjin als „Bruder im Kreis“ erkennen, ohne dass Außenstehende etwas bemerkten.
Rekrutierung: Über Empfehlung und Prüfung
In diese Netzwerke kam man nicht einfach durch Anmeldung. Neue Mitglieder wurden fast immer von jemandem eingeführt, der bereits Teil des Geflechts war. Der erste Schritt war oft ein Training bei einem anerkannten Meister. Wer dort nicht nur Talent, sondern auch Loyalität zeigte, wurde weiterempfohlen.
Prüfungen konnten körperlich oder moralisch sein: Ein Eskortauftrag über eine gefährliche Strecke, das unauffällige Überbringen einer wichtigen Nachricht oder das Einstehen für einen „Bruder“ in einer Schlägerei. Wer bestand, erhielt mehr Verantwortung – und Zugang zu besseren Aufträgen.
Einnahmequellen: Von Schutzgeld bis Eskortlohn
Die Ökonomie der Martial-Arts-Netzwerke war breit gefächert:
- Eskortdienste (Biaojus): Der Transport von Silber, Tee, Getreide oder anderen wertvollen Gütern brachte gute Bezahlung – und die Möglichkeit, unterwegs Geschäfte zu machen.
- Marktschutz: Händler zahlten dafür, dass ihr Stand oder Lagerhaus nicht von Dieben oder konkurrierenden Gruppen angegriffen wurde.
- Schuldeneintreibung: Für reiche Kaufleute oder Gläubiger übernahmen Kämpfer die „Überzeugungsarbeit“ bei säumigen Schuldnern.
- Privataufträge: Leibwache für eine Hochzeit, das Sichern eines Transports, oder das „Abraten“ eines Konkurrenten von einem Geschäftsvorhaben.
Die Balance zwischen Macht und Risiko
Der Erfolg eines Netzwerks hing davon ab, Macht auszuüben, ohne unnötig Aufmerksamkeit der Behörden oder rivalisierender Gruppen auf sich zu ziehen. Zu viel offene Gewalt konnte eine Strafexpedition des Yamen oder das Eingreifen einer Geheimgesellschaft provozieren.
Deshalb war Diplomatie innerhalb dieser Strukturen genauso wichtig wie Kampfkunst. Ein erfahrener Meister konnte Konflikte schlichten, bevor sie eskalierten – oft durch persönliche Treffen, bei denen Tee, Höflichkeitsformeln und subtile Drohungen ineinanderflossen.
Geld und Ehre
Obwohl viele Mitglieder wegen des Einkommens dabei waren, war Geld nicht die einzige Währung. Ehre und Ruf bestimmten, wer gute Aufträge bekam. Wer einen Eskortauftrag in den Sand setzte oder einen Auftraggeber betrog, riskierte nicht nur seinen Platz im Netzwerk, sondern unter Umständen auch sein Leben.
Ein starker Ruf konnte dagegen Jahrzehnte halten. Manche Meister erhielten noch in hohem Alter Geschenke oder Gefälligkeiten von Händlern, deren Großväter sie einst beschützt hatten.
Teil 5 – Kampfkunst als Sozialkapital: Mehr als nur Fäuste
In Nordchina des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war Kampfkunst weit mehr als eine Fähigkeit, sich zu verteidigen. Sie war eine Art Währung, mit der man Türen öffnen, Loyalitäten sichern und Einfluss ausbauen konnte. In einer Gesellschaft, in der offizielle Titel oft wenig Wert hatten und staatliche Institutionen schwach waren, zählte der Ruf eines Kämpfers manchmal mehr als ein kaiserliches Siegel.
Der Ruf als Schutzschild
Ein bekannter Meister oder erfahrener Kämpfer brauchte oft gar nicht zuzuschlagen – sein Name allein reichte aus, um Konflikte zu vermeiden. Händler zahlten lieber Schutzgeld an jemanden mit gefürchtetem Ruf, als das Risiko einzugehen, dessen Zorn zu provozieren. Rivalen überlegten zweimal, bevor sie sich mit einem Mann anlegten, von dem man Geschichten erzählte, wie er in einem Dutzend Kämpfen unbesiegt blieb.
Dieser Ruf wurde nicht nur durch gewonnene Kämpfe aufgebaut, sondern auch durch das Verhalten außerhalb der Trainingshalle: Großzügigkeit gegenüber Schülern, Ehrenhaftigkeit bei Geschäften, das Einhalten von Versprechen. Ein einziger Verrat konnte alles zerstören.

Tongxinggong Museum, Pingyao (Laurent Chircop-Reyes; Illegal Caravan Trade and Outlaw Armed Escorts in the Qing Dynasty: Critical Analysis of Two 18th Century Memorials Laurent Chircop-Reyes)
Technik als Türöffner
Bestimmte Kampfkünste galten als besonders prestigeträchtig. Stile wie Baguazhang, Xingyiquan oder Tongbeiquan waren in Nordchina nicht nur für ihre Wirksamkeit bekannt, sondern auch für ihre Exklusivität. Wer einen dieser Stile beherrschte – und dies in Vorführungen oder realen Auseinandersetzungen zeigte – konnte leichter in hochrangige Netzwerke eintreten.
Viele Yamen Runner und Eskortenführer nutzten ihre Fähigkeiten, um Zugang zu wohlhabenden Auftraggebern zu bekommen. Ein Meister, der etwa die Leibwache eines Provinzbeamten trainierte, konnte sich fast sicher sein, im Gegenzug politische Rückendeckung zu erhalten.
Meister-Schüler-Bindungen als Kapital
Die Bindung zwischen Meister und Schüler war oft enger als zwischen Geschäftspartnern oder sogar Familienmitgliedern. Ein Schüler, der seinem Lehrer treu blieb, konnte sich darauf verlassen, bei Bedarf Arbeit, Unterkunft oder Schutz zu bekommen. Umgekehrt konnte ein Meister durch seine Schüler in anderen Städten Einfluss ausüben – jeder gut platzierte Schüler war wie ein „Investitionspunkt“ im sozialen Kapital des Lehrers.
Diese Bindungen reichten oft über Generationen. Ein Enkel konnte noch von den Beziehungen profitieren, die sein Großvater als Schüler eines berühmten Meisters geknüpft hatte.
Prestige in der Unterwelt und darüber hinaus
Interessanterweise zählte Kampfkunst nicht nur in kriminellen oder halblegalen Kreisen. Auch seriöse Kaufleute, Tempelvorsteher oder sogar ausländische Händler respektierten die Schlagkraft solcher Netzwerke. Ein Eskortenführer mit einem guten Ruf konnte bessere Handelsrouten aushandeln oder günstigere Preise sichern – nicht, weil er verhandelte wie ein Kaufmann, sondern weil niemand riskieren wollte, ihn zu verärgern.
Kampfkunst als Lebensversicherung
In einer Zeit ohne Kranken- oder Unfallversicherung konnte Kampfkunst tatsächlich über Leben und Tod entscheiden. Wer in gefährlichen Berufen arbeitete – ob als Karawanenführer, Hafenarbeiter oder Amtsdiener – musste mit Überfällen, Schlägereien und spontanen Auseinandersetzungen rechnen. Körperliche Fitness, schnelle Reaktion und der Mut, Gewalt anzuwenden, waren nicht nur persönliche Vorteile, sondern auch Eigenschaften, die den sozialen Status steigerten.
Teil 6 – Schnittstellen zu Verwaltung und Unterwelt: Leben in der Grauzone
Die Martial-Arts-Netzwerke Nordchinas existierten in einem Spannungsfeld, in dem sich staatliche Verwaltung, private Sicherheitsdienste und kriminelle Strukturen überlappten. Diese Grauzone war kein Ausnahmefall – sie war das Fundament, auf dem viele dieser Strukturen überhaupt entstehen konnten.
Doppelrollen als Alltag
Es war nicht ungewöhnlich, dass ein und derselbe Mann morgens im Auftrag des Yamen eine Festnahme durchführte und am Abend für einen wohlhabenden Händler eine private Eskortfahrt übernahm. Manche nahmen sogar parallel Aufträge von rivalisierenden Gruppen an – solange sie geschickt genug waren, Konflikte zu vermeiden.
Diese Doppelrollen waren möglich, weil die staatliche Kontrolle oft schwach war. Solange die Arbeit für den Magistrat erledigt wurde und keine offenen Skandale entstanden, sahen viele Beamte über Nebentätigkeiten hinweg. In manchen Fällen profitierten sie sogar davon, weil sie so indirekt Zugang zu den Kontakten und Informationen der Kämpfer hatten.
Der Yamen als Kontaktbörse
Das Yamen war nicht nur eine Behörde, sondern auch ein Treffpunkt für Informationen und Aufträge. Händler, Bittsteller, Boten – wer hier ein- und ausging, hinterließ Spuren. Yamen Runner nutzten diese Position, um Geschäftsgelegenheiten zu erkennen: Wer Schutz brauchte, wer Schulden hatte, welche Karawanen unterwegs waren.
Diese Informationen wurden nicht immer im offiziellen Auftrag genutzt. Ein Runner, der wusste, dass eine Silberlieferung geplant war, konnte im richtigen Netzwerk diskret anbieten, den Transport gegen Bezahlung zu sichern – oder, im schlimmsten Fall, zu „übersehen“, wenn jemand anderes zugriff.
Wenn Beamte und Banden gemeinsame Sache machten
Korruption war nicht die Ausnahme, sondern Teil des Systems. In manchen Bezirken arbeiteten Magistrate mit lokalen Bandenführern zusammen, um „Ruhe“ zu sichern. Das konnte bedeuten, dass eine Bande für Ordnung in einem Viertel sorgte – im Gegenzug aber freie Hand für eigene Geschäfte bekam.
Martial-Arts-Netzwerke passten perfekt in dieses Arrangement. Ihre Mitglieder waren kampferprobt, vernetzt und kannten die Codes beider Welten – der offiziellen Verwaltung und der inoffiziellen Unterwelt.
Recht und Gewalt als Verhandlungsmasse
In dieser Grauzone war das Recht oft verhandelbar. Ein einflussreicher Meister konnte für einen Schüler eine Strafe reduzieren, indem er dem Magistrat im Gegenzug einen Gefallen tat – etwa einen gefährlichen Gefangenen überstellte oder einen unliebsamen Rivalen „überzeugte“, die Stadt zu verlassen.
Das machte die Netzwerke für viele unersetzlich: Sie boten nicht nur physische Sicherheit, sondern auch einen informellen Zugang zu den Entscheidungsträgern.
Die stille Akzeptanz der Bevölkerung
Die meisten Menschen wussten, wie diese Strukturen funktionierten – und arrangierten sich damit. Für einen Händler war es wichtiger, dass seine Waren sicher ankamen, als wer genau den Schutz organisierte. Für Dorfbewohner zählte, dass es eine verlässliche Instanz gab, die Streit schlichtete oder Diebe abschreckte – selbst wenn diese Instanz offiziell „illegal“ war.
Teil 7 – Geheimbünde, Sekten und organisierte Kriminalität: Schattenverbündete und Parallelmächte
Die Martial-Arts-Netzwerke Nordchinas standen selten isoliert da. Sie waren eingebettet in ein Geflecht aus Geheimbünden, religiösen Bruderschaften, Sekten und kriminellen Syndikaten, die oft schon seit Jahrhunderten existierten – manche mit ideologischen Wurzeln, andere rein auf Profit ausgerichtet.
Die großen Namen der Geheimgesellschaften
Im Norden Chinas spielten vor allem vier Strukturen eine Rolle:
- Die „Bruderschaften der Grünen Wälder“ (Lülin) – lose organisierte Banditenbünde, die sich in schwer zugänglichen Regionen wie Gebirgen oder Wäldern verbargen und gelegentlich als Söldner oder Eskorten arbeiteten.
- Die „Himmel-und-Erde-Gesellschaft“ (Tiandihui) – ursprünglich mit anti-mandschurischen Idealen gegründet, später oft in Schmuggel, Glücksspiel und Schutzgelderpressung involviert.
- Hongmen (洪門) Ursprünglich aus dem Widerstand gegen die Qing hervorgegangen, behielten die Hongmen einen revolutionären Nimbus. In der späten Qing-Zeit waren sie in Süd- und Ostchina teils in die Hafen- und Transportarbeit integriert, teils in Schmuggel und Glücksspiel.
- Green Gang (青幫) Ursprünglich aus Bootsmannschaften des Kaiserkanals hervorgegangen, wurde sie vor allem in Shanghai zu einer Machtinstanz, die sowohl mit der Kuomintang (KMT) als auch mit der ausländischen Konzessionärspolizei kooperierte. Sie kontrollierte Opiumhandel, Glücksspiel und Schutzgelder – und setzte dafür auch Kampfkunstexperten ein. Ihr Einfluss reichte über die Handelsströme bis nach Tianjin und verband so den Norden mit dem Süden.
Diese Organisationen hatten ihre eigenen Rituale, Erkennungszeichen und Aufnahmeriten, und sie überschneiden sich nicht selten mit Kampfkunstschulen – entweder, weil Meister selbst Mitglieder waren, oder weil ihre Schüler dort rekrutiert wurden.
Religiöse Sekten als soziale Zentren
Sekten mit daoistischen oder buddhistischen Einflüssen boten nicht nur spirituelle Orientierung, sondern auch ein soziales Sicherheitsnetz. Tempel dienten als Treffpunkte, in denen man sich absprach, trainierte oder Aufträge vermittelte. Manche dieser Gruppen mischten religiöse Lehren mit militanten Strukturen, etwa die „Weiße-Lotus-Bewegung“, die immer wieder in Aufstände verwickelt war.
Für viele Kämpfer war die Zugehörigkeit zu einer Sekte kein Widerspruch zu ihrer Arbeit als Yamen Runner oder Eskortenführer – es war eine zusätzliche Bindung, die Loyalität sicherte.
Insbesondere daoistische Sekten wie die Longmen-(Drachentor)-Schule spielten eine wichtige Rolle. Ihre Tempel und Klöster waren sichere Anlaufstellen für Reisende, Händler und Kämpfer. Wer in Shen County einem solchen Kreis angehörte, konnte in Shanghai auf dieselben Symbole, Rituale und Codes setzen – und so auch ohne formale Empfehlung in geschlossene Kreise vordringen.
Tempel als Treffpunkte im urbanen Raum
Historische Studien belegen, dass in der späten Qing-Zeit und in der Republikära besonders in Städten wie Shanghai und Tianjin kleinere daoistische und buddhistische Tempel mehrfach genutzt wurden:
- als Gebets- und Pilgerstätten,
- als Versammlungsorte für lokale Gilden,
- als diskrete Treffpunkte für Akteure, die nicht öffentlich in Erscheinung treten wollten.
Brian G. Martin (The Shanghai Green Gang: Politics and Organized Crime, 1919–1937, 1996) dokumentiert, dass die Green Gang Tempel in den internationalen Konzessionen Shanghais nutzte, um Treffen abzuhalten, bei denen KMT-Funktionäre, Gewerkschaftsführer und Unterweltvertreter zusammenkamen.
Frederic Wakeman Jr. (Policing Shanghai 1927–1937, 1995) beschreibt, dass die französische und die internationale Konzessionspolizei solche religiösen Orte nur ungern betrat – eine Hemmschwelle, die diese Stätten zu attraktiven Orten für vertrauliche Besprechungen machte.
Kriminalität mit Kampfkunstprofil
Bestimmte kriminelle Tätigkeiten profitierten direkt von den Fähigkeiten der Martial-Arts-Netzwerke:
- Schmuggel – Kämpfer kannten die versteckten Routen und konnten Konvois schützen.
- Glücksspiel und Opiumhöhlen – Martial-Arts-Leute fungierten hier oft als Türsteher oder Vollstrecker.
- Erpressung – „Schutz“ gegen Banden war ein lukratives Geschäft, bei dem die Drohkulisse durch Kampfkünstler besonders glaubwürdig war.

Die enge Verbindung zur Unterwelt bedeutete, dass dieselben Männer, die am Tag Waren eskortierten, nachts in einem Glücksspielhaus Wache standen.
Ideologie als Tarnung
Nicht alle Netzwerke arbeiteten nur aus Gewinnstreben. Manche Geheimbünde pflegten ideologische Narrative – etwa die Rückkehr der Ming-Dynastie oder den Kampf gegen ausländische Mächte. Diese Ideen boten eine moralische Rechtfertigung für Gewalt und halfen, Mitglieder zu binden. In der Praxis verschwammen die Grenzen zwischen Ideologie und Geschäft schnell: Ein „Patriot“ konnte am Morgen eine antiausländische Demonstration anführen und am Nachmittag eine Schmuggelroute sichern.
Das gegenseitige Nutzen
Die Verbindung zwischen Martial-Arts-Netzwerken und Geheimgesellschaften war symbiotisch:
- Die Kämpfer boten physische Macht, Disziplin und lokale Verankerung.
- Die Geheimbünde boten Schutz vor staatlicher Verfolgung, Zugang zu Ressourcen und überregionale Kontakte.
Ein erfahrener Meister konnte so nicht nur innerhalb seiner Stadt, sondern in mehreren Provinzen Aufträge und Schutz genießen.
Teil 8 – Wandel um 1900–1920: Zwischen Aufstand, Warlords und Sporthallen
Der Beginn des 20. Jahrhunderts war für die Martial-Arts-Netzwerke Nordchinas eine Zeit tiefgreifender Veränderungen. Die politischen Erschütterungen dieser Jahre – vom Boxeraufstand über den Sturz der Qing-Dynastie bis zur Warlord-Ära – brachten neue Chancen, aber auch Risiken. Viele der alten Strukturen überlebten, doch ihre Funktionen und ihre öffentliche Wahrnehmung wandelten sich dramatisch.
Der Boxeraufstand (1899–1901)
Der sogenannte „Yihetuan“-Aufstand war ein Schlüsselmoment für die Verbindung von Kampfkunst, Religion und Politik. Die Boxerbewegung mischte lokale Kampfkunstgruppen mit spiritistischen Praktiken und einem stark anti-ausländischen, anti-christlichen Programm.
Viele Martial-Arts-Netzwerke sympathisierten mit den Boxern, manche stellten Kämpfer oder logistisches Wissen zur Verfügung. Doch die brutale Niederschlagung des Aufstands durch die vereinten Truppen der „Acht-Nationen-Allianz“ zerstörte zahlreiche dieser Strukturen. In den folgenden Jahren standen viele Kämpfer unter verschärfter Beobachtung, und die Verbindung von Kampfkunst mit politischer Agitation wurde für manche lebensgefährlich.
Der Sturz der Qing (1911)
Die Xinhai-Revolution brachte das Ende der Qing-Dynastie – aber nicht das Ende der Gewaltstrukturen. Im Gegenteil: In der Übergangszeit nutzten viele Kämpfer das Machtvakuum, um ihre Position auszubauen. Manche schlossen sich revolutionären Milizen an, andere boten ihre Dienste den neuen Provinzregierungen an, wieder andere suchten Schutz bei mächtigen lokalen Führern.
Die Warlord-Ära (1916–1928)
Die politische Zersplitterung nach dem Tod von Yuan Shikai führte zur Herrschaft regionaler Militärführer (Warlords). Diese Männer regierten ihre Gebiete oft wie Privatfürsten – und sie hatten einen hohen Bedarf an loyalen, kampferprobten Männern. Martial-Arts-Netzwerke boten dafür ein ideales Rekrutierungsfeld.
In dieser Zeit stiegen einige Kampfkunstmeister zu militärischen Ausbildern oder sogar zu Offizieren auf. Wer geschickt war, konnte so großen Einfluss gewinnen – wer Pech hatte, wurde in endlose Kleinkriege zwischen rivalisierenden Warlords hineingezogen.
Die „Sportisierung“ der Kampfkunst
Parallel zu dieser Militarisierung begann ein gegenläufiger Trend: die Institutionalisierung und Sportifizierung der Kampfkünste. Ab den 1910er-Jahren entstanden öffentliche Kampfkunstschulen und Verbände, die weniger auf Gewaltanwendung und mehr auf Körperkultur und Nationalstolz setzten.
Diese Entwicklung hatte mehrere Ursachen:
- Die neue republikanische Regierung wollte die kämpferische Energie in kontrollierte Bahnen lenken.
- Ausländische Sportarten wie Boxen oder Judo inspirierten zu modernen Trainingsmethoden.
- Kampfkunst wurde als Mittel zur „körperlichen Erneuerung der Nation“ propagiert.
Für manche alte Netzwerke bedeutete das den Verlust ihrer ursprünglichen Funktion – für andere war es eine Gelegenheit, ihren Einfluss zu tarnen und öffentlich akzeptabler zu werden.
Überleben durch Anpassung
Die Netzwerke, die diese Umbrüche überstanden, hatten eines gemeinsam: Anpassungsfähigkeit. Sie konnten sich von bewaffneten Eskorteuren zu Sportlehrern wandeln, von Unterweltakteuren zu „Patrioten“ im Dienste eines Warlords – oder umgekehrt.
Teil 9 – Fallbeispiele: Dong Haichuan, Zhang Zhaodong und Wang Xiangzhai im Geflecht der Netzwerke
Die drei Namen Dong Haichuan, Zhang Zhaodong und Wang Xiangzhai markieren unterschiedliche Generationen und Rollen innerhalb der nordchinesischen Kampfkunstszene zwischen dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Sie zeigen exemplarisch, wie Meister aus diesen Netzwerken heraus agierten, Beziehungen knüpften und Einfluss auf ihre Zeit ausübten.
Dong Haichuan (ca. 1797–1882)
Dong Haichuan, allgemein als Begründer des Baguazhang bekannt, wuchs in Hebei auf und kam früh mit verschiedenen lokalen Kampfkünsten in Berührung. Ein wiederkehrendes Motiv in den Überlieferungen ist seine Tätigkeit als Steuereintreiber oder Amtsdiener, in manchen Quellen ausdrücklich als im Auftrag des kaiserlichen Hofes tätig.
Diese Position brachte ihn in direkten Kontakt zu lokalen Eliten, aber auch zu militanten Dorfmilizen und bewaffneten Begleitdiensten. Wer Steuern eintreiben wollte, musste nicht nur kämpfen können, sondern auch das komplexe Geflecht aus Beamten, Dorfältesten, Händlern und inoffiziellen Machtfiguren navigieren.
Dong nutzte diese Kontakte offenbar geschickt: Als er später nach Peking kam, fand er Zugang zu hochrangigen Kreisen, unter anderem in den Haushalt von Prinz Su. Hier verband sich sein Ruf als Kämpfer mit der Rolle eines Ausbilders für Eliteschutzkräfte – eine Position, die nur jemand einnehmen konnte, der das Vertrauen sowohl der Verwaltung als auch militärischer Kreise genoss.
Zhang Zhaodong (1865–1938)
Zhang Zhaodong aus Tianjin, Meister des Xingyiquan und Baguazhang, steht für die Verbindung von Yamen-Arbeit und halbprivater Gewaltökonomie. Neben seiner Karriere als Kampfkunstlehrer arbeitete er als eine Art Kopfgeldjäger im Auftrag des Yamen.
Diese Tätigkeit bedeutete, flüchtige Straftäter aufzuspüren, säumige Schuldner einzubringen und heikle Aufträge zu übernehmen, bei denen physische Durchsetzungsfähigkeit gefragt war. Dabei bewegte er sich in denselben Kreisen wie Eskortenführer, Hafenwächter und Unterweltkontakte.
Tianjin war zu dieser Zeit ein Knotenpunkt für Handel, ausländische Konzessionen und Schmuggelrouten – ideale Bedingungen für jemanden wie Zhang, der Kampfkunst und Netzwerkarbeit verband. Seine Schule war nicht nur Trainingsort, sondern auch Treffpunkt für Geschäftsleute, Beamte und Kämpfer. So verankerte er sich dauerhaft in der städtischen Machtlandschaft.
Wang Xiangzhai (1885–1963)
Wang Xiangzhai, später Begründer des Yiquan, gehörte zur Generation, die den Übergang von der spätkaiserlichen Gewaltökonomie zur republikanischen Kampfsportkultur erlebte. Er wuchs in Hebei auf, reiste als junger Mann quer durch China und suchte gezielt den Austausch mit bekannten Meistern – darunter auch Veteranen aus der Eskorten- und Yamen-Szene.
Diese Reisen machten ihn mit den Resten der alten Netzwerke ebenso vertraut wie mit den neuen Strukturen der Republikzeit, in denen Kampfkunst zunehmend in Militärausbildung und öffentliche Sportvereine eingebettet wurde. Seine Fähigkeit, traditionelle Techniken in ein modernes Konzept zu überführen, zeigt, wie sich das soziale Kapital der alten Netzwerke in die neue Zeit retten ließ.

Teil 10 – Fazit und Ausblick: Das Erbe der nordchinesischen Martial-Arts-Netzwerke
Die Martial-Arts-Netzwerke Nordchinas im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren mehr als bloße Zusammenschlüsse von Kämpfern. Sie waren soziale Institutionen, die in einem unscharfen Raum zwischen offizieller Verwaltung, lokaler Selbstorganisation und kriminellen Strukturen agierten. Ihre Mitglieder bewegten sich selbstverständlich zwischen diesen Sphären und nutzten Kampfkunst als physisches wie symbolisches Kapital.
Anpassungsfähige Überlebenskünstler
Ob als Yamen Runner, Eskortenführer, Milizionär oder Lehrer – die Männer (und in selteneren Fällen Frauen) dieser Netzwerke verstanden es, ihre Fähigkeiten in unterschiedlichen Kontexten einzusetzen. Sie konnten in einem Jahr für einen Magistrat arbeiten, im nächsten für einen Warlord und wenig später als Ausbilder in einer Sportschule auftreten.
Diese Flexibilität war entscheidend für ihr Überleben in einer Zeit, in der politische Ordnungen schnell wechselten und staatliche Strukturen nicht flächendeckend funktionierten.
Die Balance von Macht und Akzeptanz
Ein wesentliches Element ihres Erfolgs lag in der Fähigkeit, Macht auszuüben, ohne vollständige Ablehnung der Bevölkerung oder des Staates zu provozieren. Viele boten echten Schutz, schlichteten Konflikte oder garantierten sichere Handelsrouten – Leistungen, die auch von offiziellen Stellen nicht immer erbracht wurden.
Gleichzeitig war die Grenze zu Erpressung, Schmuggel oder politisch motivierter Gewalt oft durchlässig. Diese Grauzonen machten die Netzwerke zu einem unverzichtbaren, aber auch ambivalenten Teil des gesellschaftlichen Gefüges.
Das Erbe im 20. und 21. Jahrhundert
Mit der Konsolidierung der chinesischen Republik und später der Volksrepublik wurden die alten Strukturen weitgehend aufgelöst oder in staatlich kontrollierte Formen überführt. Kampfkunst wurde zunehmend als Sport, Gesundheitsförderung und kulturelles Erbe propagiert.
Doch Spuren der alten Netzwerke sind noch erkennbar:
- In den Meister-Schüler-Bindungen, die oft wie familiäre Verpflichtungen gepflegt werden
- In der Verflechtung von Kampfkunst, Sicherheitsdiensten und lokalen Geschäftsinteressen
- In der Erzähltradition, die Meister wie Dong Haichuan, Zhang Zhaodong oder Wang Xiangzhai in einem halblegendären Licht erscheinen lässt
Parallelen zu heutigen Strukturen
Auch wenn die politischen Rahmenbedingungen heute völlig andere sind, lassen sich in modernen Sicherheitsfirmen, in halboffiziellen Lokalorganisationen oder in der privaten Militär- und Sicherheitsindustrie gewisse Parallelen erkennen:
- Die Rekrutierung über persönliche Kontakte
- Die Verbindung von physischen Fähigkeiten mit lokalem Informationsnetzwerk
- Die Fähigkeit, in formellen und informellen Machtstrukturen zugleich zu operieren
Schlussgedanke
Die nordchinesischen Martial-Arts-Netzwerke jener Zeit sind ein Beispiel dafür, wie körperliche Fähigkeiten, soziale Bindungen und ökonomische Interessen einander bedingen können. Sie zeigen, dass Kampfkunst in China nicht nur eine Frage des Trainings oder der Philosophie war, sondern eine zentrale soziale Ressource, die Leben, Macht und Einfluss gestalten konnte.
Ihre Geschichte ist damit nicht nur ein Kapitel in der Entwicklung der chinesischen Kampfkünste, sondern auch ein Spiegel der politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die das Land vom Ende der Kaiserzeit bis in die Moderne geprägt haben.
Quellen und weiterführende Literatur
Primärquellen / Zeitgenössische Berichte
- Peking Gazette (verschiedene Ausgaben, 1860–1910) – Offizielle Hofbulletins mit Erwähnungen von Verwaltungsbeamten und Sicherheitspersonal in Nordchina.
- Younghusband, F. E. China and the Far East (1899) – Reisebericht mit Beschreibungen von bewaffneten Eskorten und Kampfkunstvorführungen.
- Parker, E. H. Chinese Secret Societies (1900) – Frühe westliche Darstellung chinesischer Geheimbünde und ihres lokalen Einflusses.
- Berichte aus dem North China Herald (Shanghai), 1875–1915 – Zeitungsartikel zu Kriminalität, Polizei und Kampfkunstvorführungen.
Sekundärquellen / Forschungsliteratur
- Esherick, Joseph W. The Origins of the Boxer Uprising. University of California Press, 1987 – Über Milizen, Kampfkunstgruppen und Geheimgesellschaften im Nordchina der späten Qing-Zeit.
- Ownby, David. Brotherhoods and Secret Societies in Early and Mid-Qing China. Stanford University Press, 1996 – Analyse der Rolle von Schwurbruderschaften und deren gesellschaftlicher Reichweite.
- Kennedy, Brian & Guo, Elizabeth. Chinese Martial Arts Training Manuals: A Historical Survey. North Atlantic Books, 2005 – Dokumentation zur Kampfkunstpraxis in der späten Qing- und frühen Republikzeit.
- Morris, Andrew D. Marrow of the Nation: A History of Sport and Physical Culture in Republican China. University of California Press, 2004 – Kontext zu Kampfkunst und Körperkultur im frühen 20. Jahrhundert.
- Lorge, Peter A. Chinese Martial Arts: From Antiquity to the Twenty-First Century. Cambridge University Press, 2012 – Umfassender Überblick mit historischem Tiefgang.
- Henning, Stanley E. „Chinese Martial Arts in the Late Ming and Qing Dynasties.“ Journal of Asian Martial Arts 6, Nr. 3 (1997): 30–62.
- Wakeman, Frederic. Policing Shanghai, 1927–1937. University of California Press, 1995 – Über die Überschneidung von Kampfkunst, Sicherheitskräften und organisierter Kriminalität.